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Vergessen zu leben: André Hennickes "Zugriff"

André M. Hennicke im kulturpolitischen Gespräch mit Josef Gros.

| 19.11.10 | Endlich mal ein Mann, der über jeden Zweifel an seiner Multitaskingkompetenz erhaben ist: Er war Kneipier, hat als Manager Til Schweigers „Knocking on Heaven’s Door“ (mit)produziert, als Kreativer schreibt er Drehbücher, als Schauspieler hat er mit Francis Ford Coppola, Jo Baier, Werner Herzog und Christian Petzold zusammengearbeitet. Er führt gelegentlich selbst Regie und nutzt seine offenbar reich bemessene Freizeit, um aufzuschreiben, was ihm im Alltag und darüber hinaus so aufgefallen ist. Jetzt hat André M. Hennicke eine große Erzählung vorgelegt.
Der knapp 300 Seiten starke Erstling lässt sich als Liebesgeschichte lesen, als Gesellschaftskritik, als Krimi. „Der Zugriff“, sein Titel, ist jedenfalls ein Begriff aus Polizeivorschriften, und im wohl wichtigsten der sechs Handlungsstränge geht es darum, einen geheimnisvollen Mr. Hyde zu fangen, der sich die Schwächen der elektronischen Kommunikation zu Nutze macht, um viel Geld zu verdienen. Das gelingt ihm auch, er hat Vermögen in vielen Ländern dieser Erde gebunkert, aber über all den adrenalinschwangeren Internetkriminalitäten hat er vergessen zu leben. Ganz wie seine Nachbarn im Berliner Plattenbau, die alle auf ihre Weise vergessen zu leben.
Das ist die Quintessenz eines Buches, das sich als gehobene Unterhaltungsliteratur einordnen lässt. Viele tun in ihrem Leben nicht, was sie tun wollen. Jeder irrt sich, so gut er kann. Der Text, nicht frei von Phrasen, weckt Spannung, enthält amüsante Bonmots und leicht belehrend wirkende Abschnitte, in denen man zum Beispiel etwas über „Phone Phreaking“ oder venezianische Brückenarchitektur erfährt.
André M. Hennicke hat 500 Seiten geschrieben, der Gollenstein Verlag hat zwei Fünftel weggekürzt, hoffen wir, dass es die richtigen waren. Dass der Verlag im Klappentext „Buddenbrocks“ schreibt, wollen wir dabei mal nicht so hoch hängen. Aber der Verdacht kommt auf, dass dem Lektorat auch Passagen zum Opfer gefallen sind, die den höchst überraschenden Schlussakkord der Handlung plausibel machen.
André Hennicke (Jahrgang 1958) ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Das zeigte sich, als er jetzt in Saarbrücken aus seinem „Zugriff“ las - auf Einladung des Kulturforums Saar und der Stiftung Demokratie Saarland. Er geht gestikulierend in Leidingers „Centro“ auf und ab, während er im Schnelldurchgang seine Vita ausbreitet, deren beruflicher Teil mit der Filmhochschule Potsdam begann, aber nicht ohne Brüche verlief. Er erzähle gern, sagt er. Bedauerlich findet er, dass diese Kulturtechnik durch den allgegenwärtigen multimedialen Informationsteppich nun in die Defensive gerät. Dabei sei sie wahrscheinlich der entscheidende Evolutionsvorteil von ‚homo sapiens’ gewesen: Hennicke spielt gestisch vor, wie Urmenschen in der schützenden Höhle sich von ihresgleichen die Gefahren oder die Jagdbeute schildern lassen, die draußen warten …
Er erzähle auch, holt er noch einmal aus, wenn er als Schauspieler eine andere Person verkörpere. Und schon als Schüler habe er ständig Geschichten erfunden, um damit seinen eher spärlichen Erzgebirgler-Horizont zu erweitern. Das Publikum erlebt einen – trotz Kratzens im Hals – aufgekratzten Autor, dem man den Spaß an seinem Buch ansieht. In diesem herrscht ein schnörkelloser Ton. Es ist der Ton, in dem Hennicke auch redet, wenn er begründet, warum er Internetbetrug als Rahmen seiner Erzählung gewählt hat. Der Kalifornier Kevin Mitnick, eine Art Ur-Hacker, der sich nach mehrjähriger Haft in einen Unternehmer für Sicherheitssysteme wandelte, habe es ihm angetan, weil dieser als Cybercowboy auf die Gefahren der elektronischen Vernetzung aufmerksam gemacht habe.
Fast reizvoller noch wirkt sein ungeschriebenes Buch. Hennicke wollte sich einmal Eva Braun nähern und vor allem der Frage nachgehen: Wie konnte sie mit ihrer unausweichlichen Erkenntnis leben, dass sie ihre Zeit mit einem gnadenlosen Verbrecher zubrachte? Das Projekt hat er leider nioch nicht angepackt.
Aber ein Drehbuch zum „Zugriff“ hat Hennicke parallel zum Manuskript verfasst. Mit einer Verfilmung, die er wohl selbst in die Hand nehmen will, ist also zu rechnen. Man darf gespannt sein, denn die Story wimmelt von ungewöhnlichen Typen und peinlich-authentischen Szenen dreier Ehen.

Wolfgang Kerkhoff

Zum Gollenstein Verlag

Bericht der SZ


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